Biken in den Wohlfühl-Alpen, 06.-12.07.2020

Zwei Jahre nach dem Abenteuer ins zuvor ziemlich unbekannte alpine Grenzgebiet von Frankreich und Italien waren für Patrick Spiegel und mich diesmal deutlich vertrautere Gefilde rund um die Dolomiten angesagt. Die Schwierigkeit bestand hier eher darin, sich möglichst nicht zu stark in eigene vergangene Reifenspuren zu begeben, um Neues zu entdecken. Dies kam denn auch nicht zu kurz, jede Phase und jeder Übergang der Tour hatte seinen ganz eigenen Charakter und kein grösserer Abschnitt wurde zu einem blossen Kilometer-Abspulen.

Tag 1: Prolog der heftigen Art
Hochalmsattel (1803m), Lamsenjoch (1953m)
Mit der Abfahrtszeit 05.33 Uhr ab Basel SBB waren wir in einem der ersten Züge mit Maskenpflicht, welcher wir uns offiziell erst um 11.40 Uhr in Scharnitz (nördlich von Innsbruck) entziehen konnten. Ausgeschlafen und frisch am Start wäre etwas Anderes. So standen wir nun am westlichen Ende des Karwendelgebirges, welches uns mit überraschend viel Sonne empfing. Es standen trotz der fortgeschrittenen Stunde um die 70km und weit über 2000 Höhenmeter an. Der Einblick ins Karwendel war interessant, bis sich dann die Wetterprognosen doch noch durchsetzten und uns der Nebel weitere Einblicke verwehrte. Den östlichen Teil des Karwendels müssen wir uns bei anderer Gelegenheit noch einmal vorknöpfen, hier entging uns Einiges. Etwas nass wurde es dann auch noch. Im Inntal fanden wir eine Unterkunft in einem grossen Hotel. Gespiesen wurde an der Bar, und zwar vom Hotelier beim Pizzakurier bestelltes Essen. Er fand die Situation selbst noch skurriler als wir – statt eines zu dieser Jahreszeit üblicherweise mit Reisegruppen gefüllten Hotels sieht er sein 4-Sterne-Haus zu einer Frühstückspension degradiert und muss in der Krise die Küche geschlossen halten.


Tag 2: Richtig rein
Loassattel (1675m), Sidanjoch (2127m), Wanglalm (2128m)
An diesem Tag galt es, die “Niederungen” zu verlassen, um definitiv in die Alpenwelt einzutauchen. Die Schwerkraft wirkt beim Anstieg aus dem Inntal besonders lang und zehrt weiter am vom Vortag in jeder Hinsicht überraschten Körper. Ein guter Rhythmus fühlt sich anders an. Hatten wir vor dem Sidanjoch ein Skigebiet bloss gestreift, so war nun die Einsamkeit Geschichte und wir sahen uns umgeben von vielen (geliehenen) Mountainbikes mit besonders dickem Unterrohr und unbeholfenen Fahrzeuglenkern darauf. Der Untergrund war derart schottrig und der Anstieg so steil, dass man bisweilen die zuvor an einem grusslos vorbei Gesurrten am Berg oben schliesslich doch empfing (statt umgekehrt). Mit den im Hintergrund blitzenden Gletschern im Blick tauchten wir ins Tuxer Tal und übernachteten zuhinterst in Diesem (eben in Hintertux).


Tag 3: Fast 70 Kehren auf knapp 5 Kilometer
Tuxer Joch (2338m), Padaun (1570m), Brenner (1370m), Schlüsseljoch (2212m)
Der Kaiserschmarren war am Vorabend trotz der 3000 Höhenmeter auch zu zweit nicht zu schaffen, Energie war ohnehin bereits genug gefuttert, um wie üblich gleich zum Etappenstart einen gröberen Brocken zu stemmen. Die Gedanken, als Jux in Tux mal eben rasch von zwei Rädern auf zwei Bretter im Sommerskigebiet zu wechseln, verflogen recht schnell. Unsere anstrengende Aktivität passte doch besser zur Jahreszeit und zum Wetter und es war noch einiges zu Schaffen und Entdecken. Das Tuxerjoch überraschte uns abwärts mit einem neulich ausgebauten Bike-Trail. Mitgezählt haben wir beim Fahren nicht (besser so, sonst hätten wir den Rest der Kehren überflogen), via GPS zeichneten wir jedoch sagenhafte 67 echte Kehren auf, bis wir im nächsten Talboden waren. Es ging mehrheitlich runter, um den Hauptkamm der Alpen zu überschreiten, andere Möglichkeiten waren schon bekannt, Neues und vor allem die Dolomiten riefen. Dennoch sollte eine kürzest mögliche Strecke auf der Transitroute des Brenners erfolgen. Unserem Schlenker in ein Seitental auf einem normalen Fahrweg (offizieller Wanderweg) standen zunächst ein paar merkwürdige Veloverbotsschilder im Weg, kurze Zeit später war es der Landwirt auf seinem Roller, ausgerüstet mit einem grossen Holzrechen. Diskussion zwecklos, er trage die Haftung auf seinen Privatweg, und wenn uns etwas zustösst (jeden Tag überschlage
es irgendwo einen Radlfahrer), greife die Versicherung auf ihn zurück. Vielleicht hätten ein paar Euro die Sache gelöst, wir machten aber kehrt und fuhren brav auf der Strasse. Die interessante Abfahrt führte uns an die Brenner-Eisenbahn, wo wir auf zwei junge Männer trafen, die sich als Schweizer Train-Spotter erwiesen und diese Stelle für die besten Bahn-Bilder und -Videos ausgewählt hatten. Beides Romands und SBB-Angestellte (Spione?!). Bemerkenswert, der erste optische Eindruck liess eher eine fehlgeleitete Party-Szene vermuten. Sehr unspektakulär ging es also via Brenner auf die Alpensüdseite und ein paar Kilometer dem Veloweg entlang, bis wir uns mit dem Aufstieg zum Schlüsseljoch wieder in eine völlig andere Welt begaben. Sonst praktisch alleine unterwegs, trafen wir oben auf eine redselige italienische Touristenfamilie, welche per E-Bike den Pass von der anderen Seite erklommen hatte. Es sollte nicht die einzige Begegnung sein, bereits gleichentags sahen wir uns wieder am Zielort. Die Abfahrt war geprägt von grobem, fast weissem Schutt, es war mehr Schwimmen als Fahren angesagt.


Tag 4: Der lange Weg zu den Ladinern
Valler Jöchl (1920m), Stoanamandl (2118m), Pederü (1548m)
In Sterzing gab es zum Frühstück standortgerecht ein “Vipiteno – Sterzing”-Joghurt, wie man es selbst in deutlich südlicheren Teilen Italiens quasi als Standard erhält und sich über die weite Reise dieser Produkte wundert. Ausnahmsweise flaches Einrollen auf der Fortsetzung des Brenner-Radwegs, bis wir uns ans Werk machten, über 1200 Höhenmeter unter uns zu lassen. Nach längerer Einsamkeit fanden sich durch die Nähe der Bergbahn beim “Steimanndli” tatsächlich viele seiner durch die Wanderer-Horden aufgebauten Pendants auf seinem zweifellos aussichtreichen Gipfel. Den gleissenden Dolomiten in der Ferne im Gegenlicht bereits “Hallo” gesagt, standen vor uns viele Kilometer interessanter Singletrails ins Tal, unterbrochen vom überraschend-erfrischenden Einblick in den Waldtourismus bei einer Hütte… Da an diesem Tag fast 90km abzuklopfen waren, hiess es aber dranbleiben, und den Veloweg das Pustertal hoch pustete uns tatsächlich zeitweise der Wind. Dann folgte jene Geländestufe, welche klarmacht, warum sich in den Dolomiten bis heute die ladinische Sprache für einen, je nach Tal wesentlichen, Teil der Bevölkerung als Erstsprache erhält. Bis zum letzten Übergang am Abschlusstag blieben wir ab Sankt Vigil im Gebiet der Ladiner, den Rätoromanen der italienischen Alpen. Als Abwechslung zum städtischen Umfeld der letzten Übernachtung, und auch um den nächsten Tag mit etwas Vorsprung auf die Marschtabelle in Angriff zu nehmen, ging es noch das schöne Tal bis zum letzten Talboden hoch, ein spektakulärer Talkessel.


Tag 5: Hauptsache oben
Sennesalm (2126m), Paternsattel (Tre Cime; 2454m), Tre Croci (1805m)
Nach 1km waren 166 Höhenmeter erledigt, wobei die ersten gut 100m noch ziemlich flach verliefen… Den Talkessel zu verlassen, erforderte einen Start von null auf maximal, auf grobem Schotter zumeist, so dass der Sattel zunächst bloss die ersten paar hundert Meter belegt blieb. Sehr lohnende Anstrengungen, auch die Bereich der Landschaft ohne die typischen Dolomiten-Felsformationen haben es rund um Cortina in sich und sind abwechslungsreich und reizvoll. Seit dem Vortag war die Wetterprognose für uns nicht mehr sorglos, vor allem vor den Blitz-Symbolen hatten wir Respekt. Die drei Zinnen mussten aber als Höhepunkt einfach sein. Da sich bei genauer Betrachtung der Aufstieg von Norden her als wenig biketauglich erwies und keine guten Möglichkeiten zur Umkehr oder Umlegung der Route bei tatsächlich eintreffendem Unwetter bot, griffen wir sie von Süden her auf der Strasse an. Ausserdem wurde bei der Recherche gross auf absolutes und rigoros durchgesetztes Bikeverbot im Bereich weit um die drei Zinnen hingewiesen, was das Ganze noch zusätzlich mit Unsicherheit für den Zeitbedarf versah. Ach ja, am Aufstieg flitzte uns mal wieder die erwähnte E-Bike-Familie entgegen. Am Ende der Strasse, zu Beginn des Schotterwegs, war ein Schild mit grossformatigen Corona-Anweisungen überklebt, vermutlich verschwand darunter ein Velo mit rotem Kreis… So setzten wir unsere Fahrt also unwissend fort und achteten penibel darauf, keinen der vielen Fussgänger in irgend einer Art und Weise zu Belästigen. Die aufziehenden Wolken schienen ausschliesslich uns zu beschäftigen. Am Paternsattel waren wir am Fuss der Zinnen angekommen und überwältigt von diesem natürlichen Monument. Dank Beisein unserer fahrbaren Untersätze entschwanden wir bald schon wieder diesem Spot. Ein tatsächlich aufkommender Platzregen in der Abfahrt liess uns leider ein paar Trail Schmankerl links liegen. Durch weitere, teils gelungene Trail-Exkurse verzögerte sich unsere Ankunft in Cortina noch etwas. Somit waren wir in unserer einzigen gar nicht deutschsprachigen Region unserer Tour angelangt. Corona steckte den Menschen hier doch noch sichtbar etwas stärker in den Knochen. Die Portion Spaghetti war sehr schick präsentiert und perfekt “al dente”, doch leider von der Menge her weit von unserer Vorstellung entfernt. Energie brauchten wir schon am Abend: Die Wetterprognose machte ein Durchziehen der geplanten Route unmöglich, und dennoch sollten die beiden folgenden Tage einen würdigen Abschluss unserer Tour ermöglichen. Erst zu später Stunde konnte ein kleiner Geistesblitz das Denk-Knäuel lösen, so dass das Abspeichern von Vorgehen und Ziel in den Köpfen und auf dem GPS-Gerät uns mit guter Zuversicht in den Schlaf begleitete.


Tag 6: Wie nass?
Cinque Torri (2120m), Valparola (2192m)
Wiederum waren es die vielen Blitze in verschiedenen wetterprophezeienden Quellen, welche uns das Vorhaben mit viel Respekt angehen liessen. Die Frage war bloss, wie nass wir werden, nicht ob, und ob wir wegen Gewittern Zwangsstopps einlegen müssten. Immerhin funktionierte unser Zug nach Westen bloss unter Überschreitung einer doch exponierten Höhe von 2200m. Dass unser ob der Prognosen morgendlicher Gag, ob man auch ja die Sonnencreme eingeschmiert hat, letztlich fast zu einem Sonnenbrand führte, war eine positive Überraschung. So griffen wir doch guten Mutes den in der neuen Planung zum Abstecher mutierten Besuch der Cinque Torri an. Tatsächlich schafften wir es bis zu deren Fuss. Doch aufziehende Nebelschwaden und ein (vermeintliches?) vernommenes Wettergrollen liessen uns von Deren Umrundung absehen. Auch hier: Später noch einmal richtig! Jedenfalls war die Abfahrt zurück auf die Route ein schöner, nadelwaldiger Trail und wir kamen somit schon zu frühen Tagesstunden zu einer kompletten Biketour mit landschaftlichen und wegtechnischen Höhepunkten. Die spätere Abfahrt ins Gadertal (Badia) erfolgte meist offroad, zum Mittag konnten wir, doch noch richtig durchnässt, in Abtei bereits unser Hotelzimmer beziehen. Der Rest des Tages war von meist starkem Dauerregen begleitet. Gewitter? Tatsächlich: Gegen Abend donnerte es ein, zwei Mal zwischen den Dolomitenfelsen, das war es schon. So beschäftigten wir uns für den Rest des Tages mit Essen, Ausruhen, etwas Wellness und der einzig verbliebenen Unwägbarkeit unserer Tour: Wie kommen wir morgen heim? Unsere Recherchen führten dazu, uns im Dorfladen mit grossen Abfallsäcken und Klebeband auszurüsten


Tag 7: Joeljoch (1730m), Kreuzkofeljoch (2340m)
Der versprochene Blick auf die Berge ergab sich bald, nachdem sich die letzten Nebelschwaden verzogen hatten und das Wetter machte uns endlich keine Umstände mehr. Das Leiden am Berg wurde nun wieder viel unmittelbarer und geschenkt wurden einem auch am Abschlusstag keine Höhenmeter. Am Vorabend hatte uns der Himmel noch eindrückliche Blicke auf den von der Sonne beleuchteten Kreuzkofel ermöglicht, heute ging es zwar zum Pass gleichen Namens, der aber in der anderen Himmelsrichtung liegt. Es ist ein Kreuz… Aufgrund der Steilheit machte es uns dieser Übergang noch einmal richtig zu schaffen. Den Peitlerkofel bekamen wir dieses Jahr nun von der “Rückseite” zu sehen und stellten fest: Auch die Dolomiten kochen nur mit Wasser, von dieser Seite sieht zumindest diese sonst so majestätische Felsformation aus wie ein ganz kommuner Berg… Wir lagen super in der Zeit und gönnten uns endlich ein wärschaftes Mittagessen in einer Hütte. Wo wir abermal euphorisch von unserer Tour-Bekanntschaft (die italienische Familie mit den E-Bikes, an dem Tag aber zu Fuss unterwegs) begrüsst und gefeiert wurden. Sonst lautete unsere Prämisse stets, möglichst früh am Zielort anzukommen, damit die Tour auch etwas ausserhalb des Schemas Biken-Essen-Schlafen-Biken zu bieten hat, was uns auch gut gelang. In Begleitung der Geislergruppe am linken Rand des Blickfeldes hiess es nun, ein letztes Mal heil den Berg hinunter zu kommen. Mit wenig Asphalt unter den Reifen erreichten wir schliesslich Brixen und stiegen nach einem kurzen Bummel durch das sonntäglich praktisch menschenleere Städtchen in den Zug. Auch diesmal kamen wir frei von Unfällen und auch von jeglichen Materialpannen bis an unser Tourziel. Da waren ja noch die Abfallsäcke und das Klebeband? Mangels freier Veloplätze im Zug ab Innsbruck packten wir damit unsere Bikes ein, die flugs zum Handgepäck wurden.

Bilder von der Tour hier im Link.